Evangelische Räte
Einführung zu den Gelübden
Die Grundfrage, die sich irgendwann in jedem Leben stellt ist: Wofür will ich leben? Was ist mir so wichtig, dass anderes erst dahinter Platz findet? Für Christinnen und Christen ist es oder sollte es das Evangelium Gottes sein. Wenn mir dieses Evangelium, das nicht eine Lehre, sondern eine Person ist, wichtig ist, so hat das Konsequenzen. Das Evangelium hat ein konkretes Gesicht, das Gesicht Jesu Christi. Und wenn ich Jesus nachfolgen will, dann gilt es, auf sein Leben zu schauen.
Die sogenannten drei evangelischen Räte sind für jede Christin und jeden Christen gedacht. Sie sind in erster Linie eine Gestaltung des Lebens und geben Antwort auf Grundfragen des Menschen. Sie geben mir Orientierung und sind Lebensleitlinien, die mir zur Menschwerdung helfen. Sie führen zu einer Lebenshaltung der „Bedingungslosigkeit“. Sie sind im Tiefsten nur lebbar, wenn Menschen die bedingungslose Zuwendung Gottes erfahren haben und darauf antworten wollen.
Lebensgestaltung im Licht des Gehorsam
So gibt der Gehorsam Antwort auf Fragen wie: Wie gestalte ich mein Leben? Wie lebe ich Macht und Einfluss? Wie gehe ich mit meinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung um? Von wem lasse ich mir etwas sagen?
Gehorsam ruft eine Kultur des Hörens und Antwortens hervor. Gehorsam beinhaltet ein „Gehören“, ohne in Abhängigkeit oder Unmündigkeit zu verfallen. Gehorsam bedeutet gegenseitiges Vertrauen, einen Raum zum Reifen und Mensch werden, und dabei füreinander Heimat schaffen. Gehorsam ist die bewusste Annahme der eigenen Begrenztheit, Endlichkeit und Fraglichkeit. Dabei sind Zeiten und Orte der Stille wichtig.
Es gilt aufeinander hören zu lernen. Das ist ein lebenslanger Prozess des gemeinsamen Ringens nach dem besseren Weg. Es geht um offene Ohren für Gottes Botschaft, um eine gewaltfreie Kommunikation, letztlich um das Eingeständnis, dass ich allein nicht die Antworten habe. Der Gehorsam will die Welt zum Guten verändern. Er ist die gemeinsame hörende Sorge füreinander. Gehorsam lässt den anderen sein, hört heraus, was in ihm steckt und setzt sich ein, dass das Verborgene wachsen kann.
Gehorsam befähigt zur Selbstverantwortung in einer stets wachen Aufmerksamkeit für sich selbst und andere. Das versuchen wir Schwestern in einer Ordensgemeinschaft zu leben, andere in der Familie und / oder in ihren sonstigen Beziehungen – immer mit dem großen Ziel, sein Leben anderen anzuvertrauen und sich gleichzeitig für das Gelingen des Lebens der anderen einzusetzen, weil Gott der Grund ist, der tragen kann.
Lebensgestaltung im Licht des Ehelosigkeit / Jungfräulichkeit / Keuschheit
Lebensgestaltung ist immer eine entschiedene Antwort auf Fragen, die unser Leben bedrängen. In Bezug auf den „evangelischen Rat“ der Ehelosigkeit, ein Rat, der sich aus dem Evangelium ergibt, sind es Fragen wie:
Wie gestalte ich meine Sexualität und Körperlichkeit? Wie gestalte ich meine Zukunft, meine Beziehungen?
Unter Sexualität ist eine grundlegende Erscheinungsform des Lebens zu verstehen und meint sowohl die geschlechtliche Identität als Mann und Frau als auch die Genitalität im engeren Sinn und die damit verknüpften Erlebnisabläufe und sozial-kommunikativen Aspekte. Sexualität ist nicht nur eine biologische, sondern auch eine psychische-geistige und sozial bestimmte Dimension des Menschen. Immer sind Begegnung, Kommunikation und Liebe die der Sexualität innewohnenden zentrale Werte – und diese sind nur in einem lebenslangen Prozess zu gewinnen.
Heute spricht man kaum mehr von dem Wort „keusch“. Und doch sind in diesem Begriff Haltungen verborgen, die unaufgebbar sind. Keuschheit meint Transparenz, liebende Ehrlichkeit und nicht vereinnahmende Beziehung leben. Diese Haltungen gelten nicht nur für die ehelos und zölibatär lebenden Menschen.
Es ist die grundsätzliche Offenheit für Gottes Wirken, das Menschen freiwillig den Weg der Ehelosigkeit wählen lässt. Das meint nicht, dass dies ein besserer Weg ist, sondern ein Weg, der für mich gut ist und mir in meinem Menschsein und Menschwerden dient. Dann wird die konkrete Lebensgestaltung von dankbarer Freude, aber auch von der ständigen Herausforderung begleitet, im Eifer für das Dasein Gottes in uns und durch uns nicht nachzulassen. Ehelosigkeit ist nicht in erster Linie ein Verzicht, sondern (m)eine Weise, die Beziehung zu Mensch, Welt, Gott und sich selbst zu gestalten. Ehelosigkeit ist das Gelübde der liebenden Hingabe. Im Wahrnehmen und Annehmen der eigenen Bedürftigkeit entscheide ich mich, den Nöten und Bedürfnissen der anderen zu dienen. Die Haltung der Jungfräulichkeit schließt ganzheitliches Begegnen ein. In Wort und Tat, mit hoher Identität und einer Relativierung aller Beziehungen, die nicht Gott sind, stelle ich mich ganz in den Dienst
der anderen. Schrittweise lerne ich im Alltag, dass „Gott allein genügt“ (Theresa von Avila), weil er der Grund des Menschen ist, die tiefste und dichteste Weise, sich selbst und den Menschen zu begegnen und mit ihnen zu leben.
Jungfräulichkeit ist zutiefst auf andere bezogen. Gemeinschaft wird hier zum Ort des Empfangens und Gebens von Nähe, Zuwendung, Vertrauen und Geborgenheit. Sie wird zum Raum des Entfaltens, zum Lernort der Hingabe an das Leben und so an und in die Welt. Jede Ausschließlichkeit von Liebe wird aufgebrochen im Blick auf das Reich Gottes.
Gleichzeitig ist sie auch nur eine Form der Gestaltung der Wirklichkeit der Liebe. Ehe und Ehelosigkeit sind aufeinander bezogen. Oft können sie zu einem kritischen Korrektiv füreinander werden. In je eigener Weise sind beide gelebte Zeichen der Liebe. So werden beide Arten der Beziehungsgestaltung zur Herausforderung für die heutige Zeit. Sie müssen die Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen wach halten und so dem Leben Sinn und Tiefe verleihen.
Lebensgestaltung im Licht der Armut
Lebensgestaltung ist immer eine entschiedene Antwort auf Fragen, die unser Leben bedrängen. In Bezug auf den „evangelischen Rat“ der Armut sind es Fragen wie:
Wie gestalte ich das Verhältnis zu dem, was ich (mir erarbeitet) habe? Wie findet mein Streben nach Sicherheit Erfüllung? Wie gestalte ich meine Beziehungen?
Grundlegend muss zwischen zwei Weisen der Armut unterschieden werden. Da ist einerseits die Armut, die als Mangel erfahren wird, die das Leben begrenzt und die Menschwerdung behindert, eine Armut, die niemand freiwillig wählt und wo es im Grunde nur Opfer gibt (victim). Und dann gibt es die frei gewählte Armut. Sie entfaltet das Menschsein und ist ein Ausdruck der Fülle, ein Reichtum, der sich fast selbstverständlich verschenkt (sacrifice). Daneben gibt es auch noch die „Lebensarmut“, das sind Dinge, die dem Menschen im Laufe seines Lebens abverlangt werden wie Krankheit oder Schicksalsschläge.
Die Erfahrung des „armen Gottes“, der ohnmächtig „heruntergekommen“ ist, der sich selbst hingibt und uns auf Augenhöhe in menschlicher Weise begegnet, kann Grund genug sein, ihm auf diesem Weg nachzufolgen. Gott ist wesentlich unter den Armen zu finden. Entscheidend ist unser inneres Bewusstsein, dass wir in allem „Empfangende“ sind und in dieser Haltung auch anderen begegnen. Das setzt die „Offenheit der leeren Hände“ voraus. Das Empfangen steht vor der Leistung. Der Mensch ist mehr als er tut, als er kann und als er hat. Zufriedenheit, Dankbarkeit und die Freude am Kleinen und Unscheinbaren gehören zur Armut. Loslassen will gelernt und geübt sein, nicht nur im Materiellen.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt von Armut ist die Ungesichertheit. Es ist die Verpflichtung zur Solidarität mit denen, die an den Rand gedrängt werden, weil sie keine Leistungen vorzuweisen haben. Dabei geht es aber zutiefst darum, eine/r von ihnen zu sein. Deshalb gehört zur Solidarität ganz untrennbar die prophetische Kraft der Klage und Anklage, das Aufzeigen der Ursachen und zerstörerischen, menschenverachtenden Zusammenhänge, die Menschen in die Armut treiben. Es geht nicht um das Teilen des „Überflüssigen“. Die Anhäufung von Gütern trennt die Besitzenden von den Nicht-Besitzenden.
Armut leben heißt, sich aus allem „Klammern“ an Geld und Besitz, an Vorstellungen, Ideen, Normierungen und Plänen zu lösen. Grundvoraussetzung einer solchen Haltung ist es, sich als schon immer Beschenkte(r) zu wissen und deshalb darauf zu vertrauen, auch in Zukunft beschenkt zu werden, weil Gott treu ist. Nur auf dieser Basis kann angstfrei und geradezu verschwenderisch (hin-)gegeben werden.
Die Hoffnung auf Vollendung durch Gott gibt den Mut, zur eigenen Gebrochenheit zu stehen. Wer schon „satt“ ist, also keinen Mangel, keine Armut kennt, erwartet nichts mehr, richtet sich in dem ein, was sie/er sich erwirtschaftet hat – das mag materiell sein, aber auch psychisch, geistig oder geistlich. Die allererste Pflicht der Armut ist es nicht, alles wegzugeben und zu verschenken, sondern alles als Geschenk dankbar zu empfangen, allerdings ohne Besitzansprüche zu stellen.
Die evangelischen Räte im Evangelium
Bei den evangelischen Räte handelt es sich um drei Weisen, das Leben zu leben, die wir im Evangelium finden. Es sind Weisen, wie Jesus selbst gelebt hat.
Jesus lebte im Hören auf seinen Vater und auf die Menschen
- Jesus hört auf die Bitte einer heidnischen Frau, sie verändert Jesu Verständnis seiner Sendung (Mt 15,21-28)
- „Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden“. (Hebr 5,8-9)
- „Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.“ (Lk 22,42)
Jesus lebte in Einfachheit
- „Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Mt 8,20)
- „In der folgenden Zeit wanderte er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf begleiteten ihn, außerdem einige Frauen, die er von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt hatte: Maria Magdalene, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere. Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besaßen.“ (Lk 8,1-3)
- „Er sagte: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,3)
Jesus lebte ehelos
- „Jesus sagte zu ihnen: Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es.“ (Mt 19,11-12)
- „Der Unverheiratete sorgt sich um die Sache des Herrn; er will dem Herrn gefallen. […] Die unverheiratete Frau aber und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, um heilig zu sein an Leib und Geist.“ (1 Kor 7,32.34)
- „Sie sie sind jungfräulich. Sie folgen dem Lamm, wohin es geht.“ (Offb 14,4)